Einigen Betrachtungen zur Demenz – Teil 3 von 4
Haben Sie schon einmal eine Situation erlebt, die Sie völlig verwirrt hat? Sind Sie nicht auch schon einmal aus dem Haus gegangen und haben eine halbe Stunde später erheblichen Zweifel bekommen, ob Sie das Wasser im Bad wirklich ausgestellt haben. Sie waren sich ganz sicher, die Wohnungstür abgeschlossen zu haben aber als Sie zurückkamen war sie nicht verschlossen. Ist jemand in der Wohnung?
Wir alle kennen solche oder ähnliche Situationen, die wir uns nicht erklären können und trotzdem so sind. Sie machen uns ratlos und manche fangen an ihrem Geist zu zweifeln an.
Wenn solche Ereignisse uns auch irritieren und verwirren, so werfen sie uns trotzdem nicht um. Sie sind in der Regel zu unbedeutend und wir speichern sie ab unter: „Was bin ich doch manchmal für ein Schussel.“ Das ist eine durchaus gesunde Reaktion. Nicht alles müssen wir uns erklären können. Das Wunderbare an unserem Gehirn ist, dass es zwar Fehler machen kann aber mit dem gleichen Gehirn verstehen wir auch, dass Fehler machen zu unserer Natur gehört. Somit bekommen wir einen ständigen „Auftrag“, uns weiter zu entwickeln.
Schauen wir uns die kleinen Irritationen aber einmal genauer an, so enthalten sie alle Elemente einer dementen Situation. Diejenigen, die gerne verstehen wollen, was in einem Gehirn eines Demenzkranken vorgeht, können sich ein solches Erlebnis noch einmal vergegenwärtigen und sich folgende Fragen stellen:
1. Was habe ich in dieser Situation gefühlt?
2. Ausgehend von den Gefühlen, was hätte ich mir am meisten gewünscht?
Wer sich diese Fragen ernsthaft beantwortet, kann sich bereits vorstellen, wie es einer Person mit einer demen-tiellen Erkrankung geht.
Häufig genannte Gefühle sind: Unsicherheit, Angst, Ärger, Verzweiflung, Ratlosigkeit usw.
Häufig genannte Wünsche sind: Unterstützung, Trost, beschützt werden, verstanden werden usw.
Wenn wir wieder einmal nicht wissen, wo unser Portemonnaie ist, ob wir es nur verlegt haben oder ob es gestohlen worden ist, dann empfinden wir dies zwar sehr ärgerlich und sind aufgeregt, aber letztlich wissen wir, das bringt uns nicht um. wir haben recht schnell einen „Notplan“ zur Verfügung: EC-Karte sperren lassen, den Weg ablaufen, den wir zuletzt noch mit dem Portemonnaie gelaufen sind usw. Dieses Problem wird sich in irgendeiner Weise klären, auch wenn es mit Verlusten und Laufereien (Führerschein, Personalausweis neu beantragen) verbunden sein soll.
Karl hingegen hat nicht das Gefühl, dass seine Frau wiederkommen wird. Er empfindet seine Einsamkeit als endlos. Es gibt bei ihm keine Vorstellung davon, wie sich sein Problem lösen lässt. Jetzt steht er im Flur, es ist dunkel, er ist allein und niemand wird jemals wieder für ihn da ein. Jetzt haben Sie vielleicht eine Vorstellung davon, wie es Karl geht, es ist die in die Unendlichkeit potenzierte Erfahrung Ihrer kleinen Irritation.
Und da Sie sich Ihre Gefühle bewusst gemacht haben, könnten Sie jetzt die Einfühlung Karl gegenüber zeigen, die Sie in Ihrem Fall auch gerne erfahren hätten.
Auch mit Erna müssten wir in diesem Sinne reden. Wenn sie sich ebenfalls in Situationen einfühlt, in der sie Verwirrung erlebt hat, kann sie sich leichter in Karls Empfindungswelt hineinversetzen. Das hilft ihr, sich von der inneren Vorstellung, wie Karl zu sein hat – eben wie vor 20 Jahren – zu lösen und kreiert auf diese Weise neue „innere Bilder“ oder „innere Landkarten“, die der Wirklichkeit von Karl eher entsprechen.
Wenn wir einmal so tun, als ob Karl recht hätte, und er davon ausgeht, dass Erna ihn verlassen hat und er nun wirklich alleine wäre, dann können wir seinen verzweifelten Gefühlsausbruch gut verstehen. Auf diesem Hintergrund macht er sogar Sinn.
Nun konfrontiert Erna ihn ja mit der Absurdität seiner Vorstellung und macht ihm Vorwürfe. Das kann er nicht akzeptieren. Wer lässt sich denn schon gerne sagen, dass er nicht ganz klar im Kopf sei. Er fühlt sich also nicht verstanden. Seine Krankheit macht es ihm auch nicht möglich, eine Einsicht in die wirklichen Abläufe zu bekommen. So bleiben für ihn nur die Verzweiflung und der Rückzug.
Mit der neuen „inneren Landkarte“, die Erna langsam in ihrem Gehirn kartographiert, kann sie sich aber in seine Situation hineindenken. Auf diesem Hintergrund könnte sie z. B. auch sagen: „Karl braucht mich sehr, ich bin das Wichtigste für ihn. Es ist eigentlich seine alte Liebe, die er für mich empfindet, auch wenn er sie aus einer entfernteren Welt, die mir nicht mehr so vertraut ist, mir noch zeigen will“.
Im letzten Teil werde ich auf die Bedeutung der Gefühle in der Kommunikation mit den Menschen, die an einer Demenz leiden, eingehen.
Stephan Detig